Leseprobe

Einstein war kein Genie. Das wusste Lotta. Aber jetzt brachte er sie wirklich zur Verzweiflung. „Bring! Na los, bring’s bitte her!“, bettelte sie und schaute ihren Hund erwartungsvoll an. Aber Einstein saß nur schwanzwedelnd vor ihr und sah sie mit seinem treuherzigen Blick an, als wollte er sagen: „Ich würde ja wirklich alles für dich tun, Lottakind, aber was, zum Kuckuck, willst du von mir?“

Er machte keine Anstalten, ihren Schulranzen zu holen, den Lotta quer durch das Zimmer geschleudert hatte. Lotta seufzte genervt. Sie liebte Einstein über alles und war eigentlich fest überzeugt gewesen, dass er verstand, was sie von ihm wollte. Er konnte auch „Sitz“ und „Platz“ machen und manchmal gab er auch Pfötchen – allerdings nur, wenn er Lust dazu hatte.

Und jetzt hatte Lotta sich etwas Neues für ihren Hund ausgedacht: Einstein sollte Sachen aufheben, die ihr heruntergefallen waren, und sie Lotta dann auf den Schoß legen. Denn Lotta saß im Rollstuhl. Sie konnte ihre Beine nicht oder besser gesagt fast nicht bewegen. Und sie musste sich immer wie Kaugummi verbiegen, wenn sie aus ihrem Rollstuhl heraus den Boden erreichen wollte. Das war schon seit ihrer Geburt so und Lotta dachte eigentlich kaum jemals darüber nach. Nur manchmal machte sich die Behinderung plötzlich bemerkbar, sie kam aus irgendeinem geheimen Winkel hervor und schrie ziemlich laut: „Ich bin da, du musst mich beachten.“ Aber Lotta gelang es in solchen Momenten eigentlich immer, sie wieder in ihren Winkel zu treiben. Man musste nur ein bisschen kreativ sein. Manchmal hatte ihre Behinderung sogar Vorteile, zum Beispiel, wenn ihr großer Bruder Sam im Garten helfen musste und sie gemütlich im Haus bleiben konnte. Aber das hätte Lotta natürlich niemals zugegeben.

Lotta hatte ihren älteren Bruder wirklich gern und bewunderte ihn. – Jedenfalls meistens, manchmal konnte sie ihn auch überhaupt nicht ausstehen. Sam war groß, kräftig und lustig. Und er beschützte Lotta. In der Schule wurde sie nie geärgert, weil die frechen Jungs wussten, dass sie es sonst mit Sam zu tun bekommen würden.

Das heißt – in ihrer alten Schule war das so gewesen. In diesem Schuljahr musste Lotta ohne ihren starken Beschützer zurechtkommen. Lotta, Sam, Mama, Papa und natürlich Einstein waren nämlich aus ihrer alten Wohnung in der Stadt in ein geräumiges Haus in einem kleinen Dorf umgezogen. Das fand Lotta eigentlich toll, vor allem, weil sie in dem neuen Haus im Erdgeschoss ganz alleine in jedes Zimmer bequem mit ihrem Rollstuhl kam. Es gab keine zu schmalen Türen oder störenden Stufen. Aber das Beste war, dass Lottas Kinderzimmer auch im Erdgeschoss war. Mama und Papa mussten sie also nicht mehr in den ersten Stock tragen wie in der alten Wohnung, wenn Lotta in ihr Zimmer wollte. Und einen großen Garten hatte das Haus auch. Und rundherum so viel Wald und Wiesen, dass man dort bestimmt tagelang unterwegs sein konnte und immer noch nicht in jedem Winkel war. Und es gab nebenan sogar einen Bauernhof mit Kühen, Hühnern und jeder Menge Katzen. Und zwei Esel, bei deren Geschrei einem fast die Ohren wegflogen und das sich überhaupt nicht nach „I-ah“ anhörte, sondern eher wie ein altes, verrostetes Scheunentor. Lotta liebte Tiere und freute sich immer, wenn sich eine der Katzen in ihren Garten oder sogar auf die Terrasse verirrten. Allerdings war die Freude meistens von kurzer Dauer, da Einstein Katzen nicht ganz so gern hatte wie Lotta. Wenn er eine in seiner Nähe bemerkte, gab es immer eine wilde Verfolgungsjagd. Aber eigentlich war auch Lottas Fellfreund sehr zufrieden mit dem Haus und dem Garten, wo er jetzt so viel mehr Platz hatte.

Der Haken für Lotta war nur, dass sie nicht mehr in ihre alte Schule gehen konnte. Die war jetzt zu weit weg. Auch Sam ging in eine neue Schule, aber das hätte er sowieso getan, weil er ab diesem Schuljahr aufs Gymnasium ging – und er kam sich deswegen mächtig wichtig vor.

Lotta dagegen wäre gern noch weiter in ihre Schule mit den netten Lehrern und ihren Freunden gegangen. Sie hatte geweint, als sie erfuhr, dass das nicht ging und sie für das nächste Schuljahr auf eine neue Schule musste. Aber Mama hatte Lotta getröstet und gesagt, dass sie sicher auch in der neuen Schule gute Freunde finden werde. Und Sam hat grinsend gerufen: „Auch andere Mütter haben hübsche Söhne!“ Das hatte Lotta nicht verstanden, aber da Sam so frech grinste, war es bestimmt irgendwas Gemeines. Aber sie konnte sich wehren: Lotta tat so, als wollte sie ihren vorlauten Bruder mit ihrem schweren Rollstuhl über den Haufen fahren. Sie nahm schwungvoll Anlauf, und raste auf ihn zu, aber natürlich bremste sie im letzten Moment gekonnt und zeigte ihm nur eine lange Nase. Papa nannte sie wegen solcher Manöver manchmal wilde Maus oder Wildfang. Meistens aber nannte er sie „Lotta Löwenherz“. Das gefiel Lotta, da sie wusste, dass er damit auf den tapferen König Richard Löwenherz anspielte. Und mit einem echten König verglichen zu werden war ja nicht schlecht, fand Lotta.

Mama sagte auch manchmal „Lotta Löwenherz“ zu ihr. Aber sie dachte dabei an ein Buch, das sie als Kind gelesen und Lotta schon viele Male vorgelesen hatte. Es hieß „Die Brüder Löwenherz“ und handelte von zwei Brüdern, die sich sehr lieb hatten und gemeinsam viele gefährliche Abenteuer bestehen mussten. Mamas zweites Lieblings-Kinderbuch war „Lotta aus der Krachmacherstraße“. Und weil ihr dieses Buch als Kind so gut gefallen hatte, nannte sie ihre Tochter später Lotta.

So stark und tapfer wie die Brüder Löwenherz oder der König Richard Löwenherz fühlte sich Lotta allerdings an diesem Morgen überhaupt nicht. Sie sollte heute zum ersten Mal in die neue Schule gehen – und zwar ganz allein. Das heißt, Mama würde sie natürlich hinfahren, mit ihr zum Klassenzimmer gehen und mit der Lehrerin reden, aber dann würde Lotta allein mit den Blicken der anderen Kinder fertig werden müssen. Lotta kannte das schon. Überall, wo sie hinkam, fiel sie auf mit ihrem Rollstuhl. Manche Leute glotzten sie mit großen Augen an. Dann glotzte Lotta immer mit noch größeren Augen zurück und wenn Sam dabei war, half er ihr dabei und schnitt den Leuten noch dazu eine seiner scheußlichen Grimassen. Mama war das dann immer etwas peinlich, aber Papa sagte, Sam hätte ganz recht: „Wenn die Leute so unhöflich sind und ein kleines Mädchen im Rollstuhl angaffen, dann geschieht es ihnen recht, wenn man ihnen eine Grimasse schneidet.“

Lotta wäre sehr froh, wenn ihr Bruder ihr auch heute mit seinen Grimassen beistehen könnte. Aber der war schon längst mit dem Schulbus in Richtung seiner neuen Schule verschwunden. Auch Papa hatte Lotta kurz über den Kopf gestreichelt, ihr zugeflüstert „Halt die Ohren steif!“ und weg war er. Papa arbeitete in einem großen Büro, wo sie riesige Häuser planten und alles voller Entwürfe, Pläne, Stifte und Radiergummis war. Die Leute dort schienen immer im Stress zu sein und auch Papa stöhnte oft, dass er viel zu viel zu tun hätte.

Für Lotta und Mama wurde es nun auch höchste Zeit. Sie hatten beim Frühstück etwas getrödelt und Lotta musste sich jetzt beeilen und trank in Windeseile ihren Kakao aus. Dann ließ sie sich von Mama noch zwei Zöpfe aus ihren langen, dichten orange-roten Haaren flechten, umarmte Einstein, der noch immer schwanzwedelnd und ahnungslos neben ihrem Schulranzen saß und ab ging’s ins Auto. Das war immer eine Prozedur bis Lotta samt ihrem Rollstuhl in dem Kleinbus verstaut war.

Als sie endlich abfahrbereit waren, schrie Lotta plötzlich: „Mein Schulranzen ist nicht da!“ Und Mama musste noch mal ins Haus sausen und ihn holen. Dann fuhren sie in einem Affenzahn los und Mama schimpfte so phantasievoll über die anderen Autofahrer, dass Lotta trotz ihrer Nervosität lachen musste. „Du Schneckenschildkröte, trag doch dein Auto um die Kurve, das würde schneller gehen“, wetterte Mama gerade über einen alten Herrn in einem uralten Auto, da kam endlich das große Schulgebäude in Sicht. Lottas Knie hätten wahrscheinlich angefangen zu schlottern, wenn sie sie bewegen hätte können.

Mama packte sie in ihren Rollstuhl und schob sie mit Riesenschritten über den Schulhof. Neben ihnen liefen nur noch einige wenige Schüler, die genauso spät dran waren wie Lotta und Mama. Im Schulhaus hatte Lotta gar keine Zeit sich umzusehen, denn es ging schnurstracks zu ihrem Klassenzimmer, das praktischerweise im Erdgeschoss lag. Die Tür stand offen und man konnte lautes Schreien und Lachen hören.

Als Lotta und Mama das Zimmer betraten, wurde es schlagartig still und alle Kinder starrten zu Lotta in ihrem Rollstuhl. „Na toll“, dachte Lotta und überlegte gerade, ob sie eine von Sams Grimassen versuchen sollte. Da kam eine junge Frau auf sie zu und stellte sich vor: „Hallo Lotta, ich bin Frau König, deine Klassenlehrerin, herzlich willkommen bei uns. Du kannst dich hier neben Mia setzen, da ist Platz für deinen Rollstuhl.“ Die Lehrerin sah sehr nett aus mit ihren Jeans und der knallroten Bluse und ihren lockigen, braunen Haaren und Lotta fühlte sich gleich besser. Tapfer gab sie Mama einen Abschiedskuss und rollte zu ihrem Platz neben einem Mädchen mit enorm vielen Sommersprossen und noch röteren Haaren als Lotta sie hatte. Mama redete noch kurz mit Frau König, dann winkte sie Lotta zu und verschwand im Laufschritt. Sie musste jetzt schnell in die Gärtnerei, in der sie vormittags arbeitete.

Frau König begrüßt Lotta und ihre Mutter im Klassenzimmer.

Frau König bat alle, sich hinzusetzen. Als nach einer ziemlichen Weile einigermaßen Ruhe eingekehrt war, sagte die Lehrerin: „Guten Morgen Kinder! Wir kennen uns ja aus dem letzten Schuljahr. Ich hoffe, ihr hattet schöne Ferien!?“ Alle nickten begeistert und wollten gleich anfangen, zu erzählen, aber Frau König unterbrach das aufkommende Gemurmel. Sie zeigte auf Lotta: „Das ist eure neue Mitschülerin, Lotta. Sie war bisher in einer anderen Schule und kennt deswegen hier noch niemanden. Ich habe euch ja schon gesagt, dass Lotta nicht laufen kann und deshalb im Rollstuhl sitzt. Ich möchte, dass ihr sie immer unterstützt, wenn sie euch braucht. Mia, du hilfst ihr während des Unterrichts, falls es nötig ist.“

Das Mädchen neben Lotta lächelte ihr freundlich zu und Lotta lächelte vorsichtig zurück. Dann forderte Frau König alle Kinder auf, von ihren Ferien zu erzählen und Lotta berichtete stolz, dass sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder an der Nordsee war und dort kleine Robben gesehen habe. Und sie sei sogar im Meer geschwommen, obwohl es dort sehr hohe Wellen gab. Ein Junge aus der hinteren Reihe rief: „Wie willst du denn schwimmen, du kannst doch nicht einmal laufen!“ Lotta wollte gerade gekränkt protestieren, da drehte sich Mia, Lottas Banknachbarin, um, blickte den Jungen streng an und sprach: „Boris, du bist soooo dumm, man braucht doch zum Schwimmen nicht unbedingt die Beine, sie hat ja schließlich zwei gesunde Arme!“ Lotta lächelte sie dankbar an und erklärte, dass sie zwar nicht richtig weit schwimmen könne, aber für ein paar Züge reiche es allemal.

Dann erzählten auch die anderen Kinder von ihren Ferienerlebnissen und Lotta hörte gespannt zu. Danach verteilte Frau König die Bücher, die sie in diesem Schuljahr brauchen würden, und erklärte ihnen, dass sie sie zu Hause in Schutzfolie einbinden müssten. Anschließend sollten sie sich eine lustige Geschichte über ein Familienmitglied ausdenken. Lotta schrieb über Einstein – der gehörte schließlich zur Familie. Über ihren Hund konnte sie seitenweise lustige Geschichten schreiben. Als sie zum Abschluss ihre Hausaufgabe in ihr Heft eintragen sollten, half Mia Lotta, ihr Hausaufgabenheft aus dem Ranzen zu holen.

Dann war die Schule für diesen Tag auch schon wieder vorbei. Mia frage Lotta, ob sie sie nach draußen schieben sollte, aber Lotta sagte stolz: „Das kann ich allein“ und zeigte Mia, wie sie sich mit Hilfe von Eisenreifen, die an den Rädern festgemacht waren, fortbewegen konnte. Mia staunte, wie gut das ging und zusammen liefen und rollten sie über den Schulhof. Da stand schon Lottas Mama und wartete auf sie. Mia verabschiedete sich von Lotta, sie durfte alleine nach Hause gehen. Lotta beneidete sie deswegen erst ein bisschen, aber dann war sie doch froh, dass sie Mama gleich alle Erlebnisse ihres ersten Schultages erzählen konnte. Sie wusste gar nicht, was sie zuerst berichten sollte, deswegen erzählte sie einfach alles auf einmal. „Zuerst haben sie mich alle angestarrt, aber zum Schluss haben sie sich wohl schon alle an meinen Rollstuhl gewöhnt“, stellte Lotta zufrieden fest. Und Mama erklärte ihr, dass die Kinder sie wahrscheinlich auch angestarrt hätten, wenn sie einfach eine neue Schülerin ohne Rollstuhl gewesen wäre. „Alles Neue ist erst einmal interessant, du mit deinem Rollstuhl bist eben doppelt interessant!“

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